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Lianetts Geschichte: Von der Zirkusartistin zur Gesundheits-Advokatin

Lianett Castellano Ferrero hat gelernt, das Leben in verschiedenen Schattierungen und Farben zu sehen. Kunst und Kreativität liegen ihr im Blut, und so wurde sie in Venezuela eine anerkannte Zirkusartistin. Aufgrund der unhaltbaren wirtschaftlichen Situation fasste sie jedoch vor zwei Jahren den Entschluss, sich nach neuen Möglichkeiten umzusehen. Der Vorhang fiel für den Zirkus, in dem sie arbeitete, ohne Aussicht auf eine Wiedereröffnung. Vorbei waren die Tage der Zelte, Bühnen und des Applauses. Lianett beschloss, nach Kolumbien auszuwandern.

Zusammen mit ihrem jüngeren Bruder wagte sie sich über einen der geheimen Pfade in La Raya, einem bekannten Gebiet für Grenzübertritte in der Nähe der Stadt Paraguachón an der Grenze zwischen Venezuela und Kolumbien. Da es keine sichere Route oder Transportmittel gibt, ist der Weg extrem gefährlich und muss zu Fuß oder mit einem Pick-up zurückgelegt werden, wobei man sich die Sitze im hinteren Teil des Fahrzeugs mit 20 anderen Personen, darunter Jugendliche, Kinder und alte Menschen, teilt.

An diesem Abend wurden sie von einer bewaffneten Gruppe, die in der Gegend operiert, mitten auf der Straße überfallen und ihre Habseligkeiten gestohlen. "Ich dachte, das wäre unser Ende", erzählt Lianett.

Sie kamen in Riohacha an, wo ihre anderen Geschwister und ein Teil ihrer Familie bereits lebten. "Manche Kolumbianer denken, dass wir hierher gekommen sind, um ihnen die Arbeit oder die Einkommensquelle wegzunehmen, dabei sind wir in Wirklichkeit hier, weil wir überleben möchten", sagt Lianett. Sie musste ihr ganzes Leben in Venezuela zurücklassen. Gerade ihr geliebtes Haus fehlt ihr, das sie mit so viel Mühe und drei Jobs aufgebaut hat. Morgens arbeitete sie als Vorschulassistentin, abends als Krankenpflege-Helferin und an den Wochenenden in einer Fast-Food-Bude.

Dann änderte sich alles

Eine Möglichkeit zu überleben und für den täglichen Lebensunterhalt in Kolumbien zu sorgen, war der Verkauf von Tinto - Kaffee mit braunem Zucker - auf den Straßen von Riohacha. Aber seit Beginn der Pandemie im Jahr 2020 kauften die Menschen aus Angst vor einer möglichen Ansteckung mit Covid-19 kaum noch Tinto.

Die neun Familienmitglieder, mit denen Lianett derzeit zusammenlebt, schaffen es kaum, genug Geld für die Miete aufzubringen. Wenn sie mit den Zahlungen im Verzug sind, droht ihnen der Hausbesitzer mit der Zwangsräumung. Ihr 21-jähriger Sohn verdient etwas Geld als Motorradfahrer in der Stadt. "Es gibt harte Tage, wir haben gehungert, aber ich sage meiner Familie immer, dass wir vorankommen müssen", sagt sie mit gebrochener Stimme.

Trotz dieser Herausforderungen und dem zusätzlichen Stressfaktor der Fremdenfeindlichkeit, die sie erlebt hat, hat sich Lianett in der Gemeinde, in der sie derzeit wohnt, engagiert. Sie hat ihre Ängste überwunden und reagiert jedes Mal mit Humor, wenn sie abschätzig "veneca" genannt wird (ein abwertendes Wort für Venezolanerin).

Heute ist sie eine wichtige Bezugsperson im Viertel San Judas, einem sehr gefährdeten Sektor der Stadt. Die Grundversorgung mit Trinkwasser, Elektrizität und sanitären Einrichtungen ist eingeschränkt, und die Lebensqualität der Bewohnerinnen und Bewohner nicht sehr hoch. Darüber hinaus fehlt es an Nahrungsmitteln. Auch der Zugang zu Gesundheitsdiensten ist in Kolumbien mit zahlreichen Hindernissen verbunden.

Nichtsdestotrotz haben Lianett und andere Führungskräfte aus der Nachbarschaft sich zusammengetan, um an Türen zu klopfen und um Hilfe für die Bedürftigsten in der Nachbarschaft zu bitten. "Es bricht mir das Herz, wenn sie zu meinem Haus kommen und mich um ein Pfund Reis bitten, weil sie nicht genug zu essen haben", sagt sie.

Hands On

Mitte Februar 2021 erfuhr sie von einem Freund, dass ihre Führungsqualitäten in der Gemeinde dem Profil für ein Projekt entsprachen, das Teilnehmende in La Guajira suchte. Es handelte sich um das Projekt "Reducing Gaps in the Health of Venezuelan refugees and migrants, with a focus on Multi-ethnic host communities" von Malteser International Americas, einer Partnerschaft mit der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Kolumbien, die vom Büro für Bevölkerung, Flüchtlinge und Migration (PRM) des US-Außenministeriums finanziert wird.

Lianett wurde eingeladen, zusammen mit anderen Gemeindemitgliedern aus der Nachbarschaft an dem Projekt mitzumachen. Sie nahm begeistert an den Aktivitäten teil, bei denen sie durch ihre Führungsqualitäten, ihre Kommunikationsfähigkeiten und ihre zwischenmenschlichen Qualitäten auffiel. Schließlich wurde sie eine der Fokuspersonen des Projekts im Bereich Gesundheitsförderung und -aufklärung.

Innerhalb des Projekts gibt es 30 Führungskräfte, deren Fähigkeiten sie zu leuchtenden Beispielen für Widerstandsfähigkeit machen. Jede und jeder von ihnen hat eine Geschichte zu erzählen, die zu unserem Verständnis eines der komplexesten Migrationsphänomene in der jüngeren Geschichte Lateinamerikas beiträgt. Heute leisten sie wichtige Arbeit für die Stärkung der Kapazitäten ihrer Gemeinde im Umgang mit Gesundheit und der Vorbeugung von übertragbaren Krankheiten.

"Ich war unmotiviert, ich wollte, dass in meinem Leben etwas anderes passiert", erinnert sich Lianett, während sie im Hinterhof ihres Hauses sitzt. Sie war schon immer eine sehr unternehmungslustige Frau, motiviert, voranzukommen und anderen zu helfen. Covid-19 hielt sie mehrere Monate lang zu Hause fest und hinderte sie daran, nach ihren Nachbarn zu sehen, wie sie es gewohnt war. Auf den Straßen herrschte Angst.

Durch die Schulungen, die das Team von MI Americas anbietet, erwirbt sie wertvolles Wissen zu Themen wie der Prävention von übertragbaren Krankheiten, der Vorbeugung von Covid-19 und der Unterstützung anderer venezolanischer Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten und kolumbianischer Rückkehrender, die nicht durch das nationale Gesundheitssystem abgedeckt sind. "Ich genieße jedes Training, weil es mich an meine Zeit als Krankenpflege-Helferin in Maracaibo erinnert und ich dieses Wissen nutzen kann, um meinen Mitmenschen zu helfen – meiner Großfamilie, die aus ganz Venezuela kommt und jetzt in diesem Land lebt", sagt sie.

Die Gesundheits- und Informations-Fokuspersonen sind Mitglieder der Gemeinde, die sich aus Migrantinnen und Migranten, Rückkehrenden und Kolumbianerinnen und Kolumbianern zusammensetzen und dabei helfen, ihre Familienmitglieder und Nachbarn über die Bedeutung guter Hygiene, Prävention und gesundheitsfördernder Praktiken zu sensibilisieren. Diese Aufgabe fördert Teamarbeit und hat positive mittel- und langfristige Folgen in den Gemeinden. Ebenso unterstreicht sie den Willen und das Engagement der Mitglieder der Gemeinde, unabhängig von ihrem Migrationsstatus oder ihrer Nationalität. "Ich würde diese Gelegenheit um nichts in der Welt missen wollen, ich habe das Gefühl, dass ich dazu beitrage, die Lebensbedingungen meiner Landsleute und sogar der Kolumbianer und Kolumbianerinnen selbst zu verbessern, die unter sehr schwierigen Bedingungen leben", sagt Lianett.

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